27. Juli 2011

"Das Bewusstsein für Naturkatastrophen hat zugenommen"

Interview mit Dr. Chris Schmotzer über den Wiederaufbau in Pakistan, ein Jahr nach der Flut.

(Würzburg/ Rawalpindi, 27.07.2011) Vor genau einem Jahr hat eine Jahrhundertflut in Pakistan 20 Millionen Menschen obdachlos gemacht. Häuser, Straßen und Brücken wurden von den Wassermassen mitgerissen, Ernten vernichtet, viele Nutztiere kamen in den Fluten um. Wie sieht es ein Jahr danach in Pakistan aus? Die langjährigen DAHW-Partnerinnen Dr. Ruth Pfau und Dr. Christine Schmotzer haben mit ihren Teams Nothilfe geleistet und unterstützen den Wiederaufbau. Wir haben mit Dr. Christine Schmotzer in Rawalpindi gesprochen.


Dr. Chris Schmotzer, wie ist die Situation ein Jahr danach – hat sich die Situation der Menschen gebessert?


Es ist unglaublich, dass es schon ein Jahr her ist seit der großen Flut. Sie ist immer noch stark im Bewusstsein der Menschen. Nun ist wieder Monsunzeit, es hat schon ein paar Mal kräftig geregnet, wie es eben zu dieser Jahreszeit gehört, aber viele Menschen haben diesmal Angst. Sie fragen sich: Wird es wieder zu Überschwemmungen kommen und werden Schäden entstehen? Früher waren die Regen grundsätzlich willkommen, Schäden wurden von vielen fast als jahreszeitliche Routine hingenommen. Diese Einstellung hat sich verändert.

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In den von den Überschwemmungen schwer betroffenen Gebieten ist der Wiederaufbau noch in vollem Gang. Die landwirtschaftlichen Schäden wurden in vielen Landesteilen durch eine sehr gute Weizenernte im Frühjahr ausgeglichen, darüber haben sich die Menschen natürlich sehr gefreut. Man kann sagen, dass in den meisten betroffenen Gebieten so etwas wie eine neue Normalität eingekehrt ist, der Wiederaufbau, vor allem in der Provinz Sindh, wird aber noch lange dauern, die Schäden waren ja ungeheuer groß.

Ist man für kommende Naturkatastrophen besser gerüstet?


Das kann man nur hoffen. Das Bewusstsein für Naturkatastrophen hat auf jeden Fall zugenommen. Andererseits ist die wirtschaftliche Situation im Land in den letzten Jahren schlechter geworden. Das heißt, dass weiter viele arme Familien in der Nähe der großen Flüsse und Kanäle wohnen müssen, weil es nur dort billig ist, ein Haus oder eine Hütte ohne Genehmigung zu bauen oder zu mieten. Erfreulich ist die Tatsache, dass mancherorts die lokalen Behörden aufgewacht sind. Hier in Rawalpindi wurde schon seit Anfang Juni die Bevölkerung immer wieder aufgerufen, die tiefliegenden Slum-Gebiete entlang des Leh-Kanals zu verlassen oder zumindest das Haus so vorzubereiten, dass die Familie ihr Hab und Gut im ersten Stock hat und dort leben kann oder schnell die Hütte verlassen und umziehen kann. Diese Voraussicht hat es früher nicht gegeben. Aber diese gute Planung scheint es nicht überall zu geben.

Wo sehen Sie den dringendsten Handlungsbedarf, um Schäden wie 2010 künftig zu vermeiden bzw. geringer zu halten?


Es sind leider mehrere Dinge, die dringend nötig wären. Einmal müsste die Regierung den Armen billiges Bauland in sicheren Lagen zur Verfügung stellen. Solange es das nicht gibt, müssen sich die Leute in solch unsicheren Gebieten ansiedeln.

Außerdem müsste in allen gefährdeten Gegenden ein Frühwarnsystem eingeführt werden. In Rawalpindi gibt es das bereits. Gestern Morgen z.B. hat es heftig geregnet, und der Wasserstand im Leh-Kanal stieg rapide. Die lokalen Behörden haben rechtzeitig Sirenen ertönen lassen, sodass sich die Leute in Sicherheit bringen konnten, bevor das Wasser über die Ufer trat. Offensichtlich ist niemand zu Schaden gekommen.

Eine andere wesentliche Sache wäre die Durchsetzung von Bauvorschriften. Darauf wird von den Behörden oft nicht geachtet, sodass bei Naturkatastrophen wie Überschwemmungen, Erdbeben, Stürmen etc. viele Häuser „unnötigerweise" einstürzen und Menschen zu Schaden kommen. Wir haben mit diesem Punkt konkrete Erfahrungen. Keines der Häuser, die wir nach dem Erdbeben 2005 den Richtlinien für Erdbebensicherheit entsprechend gebaut hatten, wurde bei den Überschwemmungen 2010 unbewohnbar. Das hat uns sehr gefreut und erleichtert.

Ein weiteres großes Thema wäre die Regulierung der Flüsse, vor allem des Indus, durch Stauseen, die auch der Elektrizitätsgewinnung dienen könnten. Pakistan bräuchte dringend mehr Strom. Aber das sind sehr schwierige politische Entscheidungen, darüber wird schon seit Jahren erbittert diskutiert.

Wie geht der Wiederaufbau voran?


Wenn Sie nach unserem Programm fragen, kann ich nur sagen, dass es prima läuft. Da unser verantwortlicher Mitarbeiter viel Erfahrung sammeln konnte beim Wiederaufbau nach dem Erdbeben, macht er seine Sache sehr überlegt und professionell. In anderen Gebieten, wo es weite, flächenhafte Überschwemmungen gegeben hat, gibt es mehr Probleme. Eines davon ist die Frage des Grundbesitzes. Teilweise sind die Grundbücher zerstört oder verschwunden, der Fluss hat sein Bett verlegt, Schutzdämme sind nicht wieder aufgebaut. Für diese Menschen ist es sehr schwer, wieder ein Haus zu bekommen.

Ein anderes Problem ist, dass durch die Abwanderung der landlosen Bevölkerung in die Städte Landarbeiter fehlen und dadurch nicht soviel angebaut wird wie vor der Flut. Das hat aber auch eine gute Seite: Die Landarbeiter, die oft extrem schlecht verdient haben, können das erste Mal Forderungen stellen, es ist fast eine gesellschaftliche Veränderung. Viel bleibt noch zu tun an Infrastrukturmaßnahmen, wie Neubau von Strassen, Brücken und Deichen. Diese Dinge werden noch Jahre brauchen!

Wie läuft die Betreuung von Menschen mit Lepra, TB und Behinderung?


Wir sind dankbar, dass die Patienten immer gut versorgt werden konnten nach der Flut. Es wirkt sich aus, dass wir sie gut über ihre Krankheit und die Notwendigkeit einer langfristigen Behandlung aufklären. So haben wir immer wieder erlebt, dass Patienten selbst die Initiative ergriffen haben, um ihre Behandlung z.B. nach einer Umsiedlung nicht zu unterbrechen.

Das eindrücklichste Beispiel war für mich eine ältere Leprapatientin aus der Provinz Sindh, deren Haus dort zerstört und die von ihrer Familie bei einem Verwandten in Rawalpindi einquartiert wurde. Die arme Frau konnte sich bei uns fast nicht verständigen, weil sie nur Sindhi sprach, bei uns spricht man Urdu, Punjabi oder Potohari. Außerdem war sie wohl zwischendurch gestürzt und hatte sich einen Wirbelbruch zugezogen, der aber erst hier bei uns festgestellt wurde und der eine stationäre Aufnahme erforderlich machte. Aber sie hat tapfer alles ertragen, unser Krankengymnast war begeistert von ihrer guten Mitarbeit. Vor ein paar Wochen konnten wir sie wieder in ihre Heimat abreisen lassen, dort kann sie nun ihre Leprabehandlung hoffentlich ohne weitere Probleme zu Ende bringen. Sie ist sehr dankbar für alle Hilfe - und hat mittlerweile sogar ganz gut Urdu gelernt.

Das Gespräch führte Renate Vacker.


Fluthilfe Pakistan
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