25. Juni 2012

"Das hier erlebt man nur einmal im Leben"

Jugendliche aus Ostfriesland lassen sich auf ihrer Tour nach Unterfranken nicht beirren.

Über 50 Ostfriesen haben sich auf den langen Weg nach Würzburg gemacht. 620 Kilometer, mehr als 10 Stunden im Bus – nur, um ohne Bezahlung für einen guten Zweck Theater zu spielen. Das gleichzeitig laufende EM-Spiel der deutschen Mannschaft gegen Griechenland vermisst keiner, nicht mal die eingefleischten Fußballfans.

(Würzburg, im Juni 2012) Fußball? Tim zuckt nur mit den Schultern: „Eigentlich gerne, aber die unzähligen Vorberichte gehen mir schon lange auf den Nerv.“ Der 17-Jährige ist Fan von Werder Bremen, und ganz egal ist ihm das Spiel nicht: „Ich kann das Spiel in den nächsten Tagen doch mindestens drei Mal als Wiederholung sehen oder die besten Szenen im Internet.“

Ähnlich denkt Max, als HSV-Fan eigentlich Tims Gegner: „Wenn es schon drei Tage vor dem Spiel kein wichtigeres Thema in der Welt zu geben scheint als das eine, dann ist es um unsere Welt nicht zum Besten gestellt.“ Für den Gymnasiasten aus Aurich gibt es Wichtigeres, an diesem Wochenende sein Auftritt in Würzburg. Unterfranken, weit entfernt von der Nordseeküste. Die Heimat von Elke Warmuth, ohne die er und 51 andere Ostfriesen wohl kaum hier hergekommen wären.

Tim war vor drei Jahren schon mal hier, mit der gleichen Theatergruppe, wenn auch in anderer Besetzung. „Die Gezeichneten“ hieß damals das Stück, das sie sogar vor großer Prominenz und großem Publikum im Berliner Dom aufgeführt hatten. Lepra und Aids die Themen, bei denen es so viele schreckliche Gemeinsamkeiten gibt.

Elke Warmuth und Isburga Dietrich hatten schon damals das Stück geschrieben und inszeniert. Jetzt, in ihrem neuen Stück „SehnSucht“ geht es um die Frage, was verschiedene junge Menschen unter „Paradies“ verstehen, ob Eltern oder Lehrer dabei als Vorbilder taugen oder sie ihren Weg selbst finden müssen. „Das Schönste dabei ist, Menschen zum Nachdenken zu bringen über Dinge, an die man sonst kaum Gedanken verschwendet“, meint Tim, bis er zu seiner Probe gerufen wird.

Die Schauspielgruppe probt in der Turnhalle

Die kleine Gymnastikhalle, in der die Jugendlichen auf Luftmatratzen übernachtet haben, ist auch Schauplatz für die Proben, bevor es am Abend mit der Aufführung losgeht. „Obwohl kein Einziger fehlt“, unterbricht Julia ihre Dehnübungen. Die 15-Jährige tanzt im Ballett und muss sich für ihre Probe aufwärmen: „Wir hatten schon befürchtet, hier nur mit Mädchen auftreten zu müssen, aber kein einziger der Jungs hat sich abgemeldet.“

Max ist gerade mit seiner Probe fertig: „EM oder WM gibt es doch alle zwei Jahre. Aber das hier, das erlebt man einmal im Leben, mit viel Glück noch ein zweites Mal.“ Das hier, das ist die Theatergruppe aus Aurich. In ihrer Kirchengemeinde und einer Schule suchen Elke Warmuth und Isburga Dietrich immer nach Jugendlichen, die sie für ihr Theater begeistern können. Es liegt wohl am Zusammenhalt der kleinen katholischen Gemeinde in der ansonsten evangelischen Region, dass so viele mitmachen.

Die Ideen bekommen die beiden in ihren Berufen. Dietrich ist Lehrerin und kennt die Sorgen, die sich aus Alkoholismus mit all seinen schlimmen Folgen ergeben: prügelnde Väter, gleichgültige Mütter und oft die eigene Flucht in Drogen. Warmuth bekommt als Gynäkologin oft mit, was gerade junge Mädchen vom Leben und der Liebe erwarten und in der Realität bekommen. „Einiges davon ist in das neue Stück eingeflossen, auch desillusionierte Lehrer und junge Menschen, die nicht wissen können, wo ihr Platz ist in dieser Welt.“ Brisante Themen wie Flucht in Drogen oder andere Abhängigkeiten oder der Umgang mit Sexualität sind daher ein Spiegel für die unterschiedlichen Blickwinkel der Protagonisten.

Die Geister der Sucht haben einige Jugendliche fest im Griff

Ein paar Stunden später, kurz vor dem Auftritt ist die gebürtige Würzburgerin aber doch nervös: Werden Zuschauer kommen oder ist „König Fußball“ doch stärker, und werden ihre jungen Schauspieler das anstrengende Programm trotz der Strapazen meistern? Viele Plätze im Publikum sind noch leer, als der erste Vorhang aufgeht. Doch die jungen Schauspieler halten das, was die beiden Macherinnen versprochen haben und sorgen mit Schauspiel, Tanz und Gesang für Begeisterung. Immer wieder kommt von den begeisterten Zuschauern langer Beifall zwischen den Szenen.

Mit dem letzten Vorhang fällt auch die Anspannung bei Elke Warmuth, die das ganze Stück über oben auf dem Balkon mitgefiebert hat, besonders mit den jüngsten, die noch nicht lange dabei sind. Als sie auf die Bühne stürmt und ihre jungen Schauspieler stürmisch umarmt, kommt eine erleichternde Nachricht: 3:1 für Deutschland. Riesiger Jubel bei den Jugendlichen, völlig egal ist es ihnen dann doch nicht. Aber heute gab es Wichtigeres für die 52 jungen Menschen. Und vielleicht werden sie nochmals nach Würzburg kommen und hier spielen. Dann aber ohne Konkurrenz durch Fußball und dann hoffentlich vor großem Publikum. Verdient haben sie sich das heute schon.

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