01. Juni 2010

Fragen an Dr. Singh, Medizinischer Berater der DAHW

Dr. Singh, Medizinischer Berater der DAHW in Indien

Was bedeutet Robert Koch, der vor 100 Jahren starb, für Ihre heutige Arbeit?

Einer der nach wie vor anerkannten Wege für eine Tuberkulose-Frühdiagnose ist der Speicheltest auf TB-Bakterien sowie das Anlegen von Kulturen. Beides setzt auch noch 100 Jahre nach Robert Kochs Postulaten Maßstäbe.

Bitte beschreiben Sie die Tuberkulose-Situation in Ihrer Region. Warum ist sie wie sie ist?

Indien ist das Land mit den meisten Tuberkulose-Fällen, mit beinah einem Fünftel aller weltweiten Fälle. Ca. 40 Prozent der indischen Bevölkerung sind mit dem TB-Erreger infiziert und man schätzt, dass ca. 5.000 Menschen pro Tag in Indien erkranken. Jeder davon ist ansteckend wenn er nicht behandelt wird. Und jeder kann zehn bis 15 Menschen pro Jahr anstecken.

In Indien ist die TB für 17,6 % der Todesfälle durch Infektionskrankheiten verantwortlich und für 3,5 % aller Todesfälle (WHO, 2004). Bei uns gibt es jährlich ca. 0,27 Millionen Todesfälle durch Tuberkulose (TB). Sie tötet mehr Frauen als alle mutterschaftsbedingten Todesursachen zusammen. Die MDR-Tuberkulose (multiresistente Tuberkulose) stellt uns in der TB-Kontrollarbeit vor große Herausforderungen und bislang führt Indien auch hier vor China, Russland, Südafrika, Bangladesh, etc. bei 131.000 weltweiten MDR-Tuberkulose  Patienten, die eine entsprechende Behandlung benötigen. Man schätzt, dass in Indien 3 % der neuen TB-Fälle und 14-17 % der bereits behandelten Tuberkulose-Patienten an multiresistenter TB leiden. XDR-TB wird zwar aus vereinzelten Studien gemeldet, aber zuverlässige Schätzungen gibt es noch nicht.

Weiterhin wird die Tuberkulose (TB)-Situation in Indien durch HIV verschlimmert. Schätzungen zufolge leben hier 2,31 Millionen Erwachsener mit HIV/AIDS. Auf sechs Staaten in Indien (Andhra Pradesh, Karnataka, Manipur, Maharashtra, Nagaland und Tamil Nadu) verteilen sich 75 % aller AIDS-Fälle Indiens. TB ist eine der frühesten opportunistischen Infektionen unter HIV-Infizierten und sorgt für höhere Sterberate unter denselben. Schätzungsweise 6,7 % aller TB-Patienten in Inden sind auch HIV infiziert (WHO, 2008).

In Indien leben außerdem 20-30 Millionen Diabetiker, voraussichtlich werden es bis 2030 schon 80 Millionen sein (Wild S, Roglic G, Green A, Sicree R, King H (2004) Global prevalence of diabetes: estimates for the year 2000 and projections for 2030. Diabetes Care 27: 1047-1053). Diabetes wird als unabhängiger Risikofaktor für Tuberkulose TB in diversen Studien der Welt genannt (Shetty N, Shemko M, Vaz M, D’Souza G (2006) An epidemiological evaluation of risk factors for tuberculosis in South India: a matched case control study. Int J Tuberc Lung Dis 10: 80-86). Schätzungsweise 14,8 % aller TB-Fälle sollen im Zusammenhang mit Diabetes ausgelöst werden (Stevenson CR, Forouhi NG, Roglic G, Williams BG, Lauer JA, et al. (2007) Diabetes and tuberculosis: the impact of the diabetes epidemic on tuberculosis incidence. BMC Public Health 7: 234).

Beinahe 70 % der TB-Patienten sind zwischen 15 und 54 Jahren alt. Studien zufolge verliert ein Patient im Schnitt 3-4 Monate Arbeitszeit, was durchschnittlich 20-30 % Verlust eines Jahreseinkommens ausmacht. So entstehen große Schuldenbelastungen, insbesondere für Menschen aus Randgruppen und armen Regionen (Ramachandran R, Balasubramaniam R, et al, Tuberculosis Research Centre, Chennai. Socio-economic impact of Tuberkulose TB on patients and family in India, Int J Tub Lung Dis 1999; 3: 869-877). Außerdem mussten 11 % der Kinder wegen erkrankter Eltern die Schule verlassen und 20 % der Kinder mussten arbeiten um für das Familieneinkommen zu sorgen, insbesondere wenn der Vater an Tuberkulose litt (SAARC, Journal of Tuberculosis, Lung diseases and HIV/AIDS; vol 1, 2004). Beinahe 0,1 Millionen Frauen werden wegen Tuberkulose TB von ihren Familien verstoßen.

Im Jahr 2009 wurden 1.533.309 TB Patienten zur DOTS (Directly Observed Treatment Short)  Tuberkulose-Behandlung gemeldet (Directly Observed Treatment Short course). Das indische Tuberkulose-Programm konnte 72 % (624.617) aller neuen Tuberkulose-Infektionen ermitteln, die die Krankheit theoretisch in ihrer Gemeinde verbreiten könnten. Hauptsäule der Diagnose von ansteckender Tuberkulose (TB, TBC) ist nach wie vor die Speichelmikroskopie und das Anlegen von Kulturen. Vor Kurzem wurde LPA (Line Probe Assay) zur Früherkennung von multiresistenten Tuberkulose-Fällen in Inden eingeführt. Insgesamt 1.107 MDR-TB-Patienten wurden für die DOTS plus Behandlung angemeldet. Der Staat Delhi, mit einer Bevölkerung von 17,6 Millionen, hat 50.693 Fälle im Jahr 2009 für DOTS angemeldet. Im Schnitt haben wir 257 Tuberkulose (TB, TBC) Patienten pro 100.000 Einwohner. Diese Fälle finden sich oft gebündelt in Slums oder entsprechenden Vierteln von Delhi. Eine Millionenstadt wie Delhi kann 85 % (14.156) der erwarteten Neuinfektionen aufspüren, dennoch ist dieser Bevölkerungsabschnitt noch eine Herausforderung.

Was sind die größten Herausforderungen im Kampf gegen die Tuberkulose?

Indien konnte erfolgreich das ganze Land mit kostenfreier Tuberkulose-Diagnose und Behandlunsmöglichkeiten abdecken. Bei mehr als einer Milliarde Menschen ist eine großartige Herausforderung Qualität auf verschiedenen Ebenen für alle sicher zu stellen. Noch immer stellen geographische Erreichbarkeit (sowohl in städtischen als auch in ländlichen Gebieten), Zeit und Unwissenheit in schwer erreichbaren Gebieten Herausforderungen dar.

Das Nationalprogramm findet ca. 72 % der ansteckenden Fälle, dennoch konzentrieren sich 28 % außerhalb des Systems. Letztere erhalten nicht-standardisierte Tuberkulose-Behandlung, oft unregelmäßig und auf privater Ebene. Dadurch wächst die Bedrohung durch multiresistente Tuberkulose. Willkürlicher Verkauf von Tuberkulose-Medikamenten macht es noch schlimmer.

Bestehende Ambulanzöffnungszeiten sind unerreichbar für den armen Teil der Bevölkerung, da die Mehrzahl derer Tagelöhner oder Gelegenheitsarbeiter sind. Fehlernährung oder armutsbedingte Mangelernährung verleiten Tuberkulose-Patienten oft dazu ihre Behandlung abzubrechen, wegen Nebenwirkungen oder aus der Not heraus, Geld verdienen zu müssen um ihre Familie zu ernähren. So sind sie prädestiniert eine multiresistente Tuberkulose (TB, TBC) zu entwickeln.

Durch wenige bis keine öffentlichen Verkehrsmittel sind die Entfernungen zur Behandlung in ländlichen Regionen weit. Das soll künftig durch die Beteiligung akkreditierter Gesundheitsaktivisten über die Nationale Gesundheitsmission (National Rural Health Mission (NRHM)) besser werden.

Neue Diagnosemöglichkeiten wie LPA haben die Frühdiagnose von MDR-TB-Patienten verbessert. Eine Möglichkeit, Tuberkulose (TB, TBC) in einem sehr frühen Stadium zu erkennen, noch bevor der Patient die Infektion weiter übertragen kann, wäre sehr hilfreich. Zunächst ist es jedoch wichtig, den Zugang zur lebensrettenden Behandlung für alle Betroffenen sicherzustellen sowie neue Medikamente für MDR- und XDR-TB zu finden.