07. Juli 2008

Tuberkulose: Wegbegleiter der Armut

Reportage aus den Favelas von São Paolo

Die DAHW unterstützt den Kampf gegen die Krankheit der Armen mit der Schulung von 750 Fachkräften. Um Tuberkulose wirkungsvoll bekämpfen zu können, muss die Übertragung auf andere Menschen gestoppt werden. Bei den beengten Wohn- und Lebensumständen in den Slums infizieren sich besonders die eigenen Familienmitglieder mit der tödlichen Krankheit.

São Paulos Skyline verflüchtigt sich am Horizont. Und mit den mächtigen Bankentürmen, den Konzernzentralen und Appartementhochhäusern verschwindet auch die Erste Welt. Eine Autostunde vom Zentrum entfernt und noch immer inmitten eines schier unendlichen Häusermeers liegen die Distrikte Vila Prudencia und Sapopemba. Sie gelten als schlechte Adresse. Mit über 500.000 Einwohnern zählen sie zu den ärmsten Stadtteilen der brasilianischen Megastadt. Irgendwo im Dschungel aus Blechdächern lebt Waldir Prado mit seiner Familie. In einem klammfeuchten und fensterlosen Raum teilen sich seine fünf Kinder ein doppelstöckiges Bett, das auch als Kleiderablage dient. An den nackten Wänden hängen als einziger Schmuck ein halbes Dutzend Medaillen an bunten Bändern. "Die wurden meinem Sohn verliehen“, sagt Waldir stolz, "weil Claudio ein guter Sportler ist.“ Dann hält er sich die Hand vor den Mund. Eine Hustenattacke schüttelt ihn durch.

 

Waldir Prado ist ein Kerl wie ein Baum. Dennoch hat die Tuberkulose ihn gefällt. Noch heute ist er zu schwach, seine Kinder auf den Arm zu nehmen. Die ganze Familie hat Angst vor der Zukunft. Foto: DAHW / Rolf Bauerdick

 "Ich war immer ein kräftiger Mann“, erzählt der 37-Jährige, "sonst hätte ich meinen Job auf der Feira gar nicht durchhalten können.“ Auf dem örtlichen Markt verkaufte Waldir Obst und Gemüse, schleppte kistenweise Bananen, Mangos und Ananas. Bis ihm im wahrsten Sinne des Wortes die Luft wegblieb: "Mir war ständig elend. Ich hatte Fieber, schwitzte, magerte ab und war dauernd hundemüde. Und immer dieser schreckliche Husten.“ Schließlich quälte sich Waldir nach JUTA 1. So heißt der lokale Gesundheitsposten in seinem Bezirk, der sich um jene Menschen kümmert, die sich keine Krankenversicherung leisten können. Der medizinische Befund war schnell klar: Lungentuberkulose in fortgeschrittenem Stadium. Hochinfektiös, aber heilbar. Seitdem muss Waldir Prado jeden Tag Antibiotika einnehmen. Ein halbes Jahr dauert die Medikamententherapie. "Vier Monate habe ich schon hinter mir, und allmählich komme ich wieder zu Kräften.“

Waldir Prado wird als geheilter Patient in die Erfolgsstatistik eingehen. Ein erledigter Fall für die Aktenablage jedoch ist er nicht. "Wir müssen sein soziales Umfeld sehr aufmerksam beobachten“, betonen die Gesundheitsagentinnen Rose und Francisca. Die beiden Frauen zählen zu einem Team aus zwanzig Fachkräften, die in JUTA 1 speziell im Kampf gegen die Tuberkulose eingesetzt werden. "Weil die Familien in den engen und stickigen Wohnungen einer hohen Ansteckungsgefahr ausgesetzt sind, haben wir sofort Waldirs Ehefrau und die Kinder untersucht“, erklärt die 42-jährige Francisca. "Zum Glück waren die Befunde der Sputumanalyse, der Röntgenaufnahmen der Lunge und der Hautabstriche bei allen Familienmitgliedern negativ. Ein paar Wochen später wäre das Ergebnis sicher anders ausgefallen.“

Vorsorge durch "active case-finding“, darauf setzt ein zukunftsweisendes Programm der Tuberkulosebekämpfung in den Favelas von São Paulo, an dem die Deutsche Lepra- und Tuberkulosehilfe (DAHW) maßgeblich mitwirkt. Das heißt: in den Gesundheitsstationen wie JUTA 1 oder Jardim Grimaldi wartet das medizinische Personal nicht mehr darauf, bis Tuberkulosepatienten dringend ärztliche Hilfe benötigen, und das in einem späten, oft lebensbedrohlichen Krankheitsstadium. Um schwere Fälle zu vermeiden, suchen Gesundheitsagentinnen wie Francisca bei ihren Hausbesuchen und Aufklärungskampagnen aktiv nach Tuberkulosekranken. Der Vorteil dieses Programms liegt in seiner Effizienz. Vorbeugende Maßnahmen erfordern jedoch geschultes Personal. Daher wurden 2007 mit finanzieller Hilfe der DAHW 750 Tuberkulose-Fachkräfte für São Paulo ausgebildet. Allein die Agentin Francisca betreut jeden Monat 250 gefährdete Familien. "Am Anfang waren die Leute misstrauisch. Manche glaubten sogar, wir kämen in die Häuser, um ihre Habseligkeiten zu stehlen. Nun kennt man uns und unsere Hilfe ist überall willkommen. Unsere Arbeit trägt Früchte und zeigt messbare Ergebnisse.“

 

Gesundheitsagentin Francisca klärt Bewohner des Armenviertels über Gefahren und Symptome der TB auf

Im November 2007 suchte lediglich ein Tuberkulose-Patient die Gesundheitsstation JUTA 1 auf. Dann wurden die Hausbesuche intensiviert. Einen Monat später wurden bereits vier Tuberkulosefälle entdeckt, in den ersten drei Monaten des Jahres 2008 wurden elf neue Patienten registriert. "Wenn man bedenkt, dass es in São Paulo über 400 medizinische Basisdienste wie JUTA 1 gibt, dann werden die Zahlen dramatisch“, sagt Dr. Naomi Kawaoka. Niemand kennt die Statistiken besser als die 58-jährige Ärztin, die für die 20-Millionen-Metropole São Paulo als Koordinatorin für die Tuberkulosekontrolle zuständig ist. 3.389 Menschen mit verdächtigen Symptomen wurden allein in Sapopemba untersucht, dabei wurden 332 neue Tuberkulose-Erkrankungen diagnostiziert. Trotz eines leichten Rückgangs verzeichnet die Stadt São Paulo insgesamt noch immer 6.500 neue Tuberkulosekranke – jedes Jahr.

Infolge der riesigen Kluft zwischen Arm und Reich ist das Infektionsrisiko in São Paulo allerdings äußerst ungleich verteilt. In gutbürgerlichen Stadtvierteln wie Pinheiro ist die Ansteckungsgefahr äußerst gering. In den Favelas von Sapopemba liegt die Prävalenzrate – die Zahl der Erkrankten je 100.000 Einwohner – bei 50, im Süden der Stadt in den verarmten Indianervierteln erreicht sie fast das Doppelte. Bei keiner anderen Bevölkerungsgruppe jedoch ist das Risiko sich mit Tuberkulosebakterien zu infizieren derart hoch wie unter den "moradores de rua“, den Bewohnern der Straße. Im Heer der Obdachlosen liegt die Quote mit 1.500 erschreckend hoch.

In São Paulo ist die Tuberkulose daher nicht nur ein medizinisches Problem, sondern auch ein soziales Desaster. Die Obdachlosigkeit steigert nicht nur die Gefahr einer Infektion, Tuberkulosekranke stürzen aufgrund ihrer Arbeitsunfähigkeit oft auch in ein soziales Loch. So wie Antonio Estrela. Gebürtig stammt der 32-Jährige aus dem Nordosten Brasiliens, einem armen und staubtrockenen Landstrich, wo die Landarbeiterfamilien vom Anbau von Mais und Bohnen kaum mehr überleben können. "Ich wanderte ab nach São Paulo und hatte Glück. Zunächst wenigstens“, so Antonio. "Ich fand Arbeit im Materiallager einer Baufirma. Lastwagen habe ich beladen, Ziegelsteine geschleppt. Bis dieses verfluchte Fieber kam. Wochenlang habe ich mich über die Runden gequält, dann ging nichts mehr. Ich verlor meine Arbeit. Seitdem wohne ich auf der Straße und schlafe in einem Nachtasyl.“

 

Krankenschwester Gislene Ruba gibt Antonio Estrela seine TB-Medikamente, Ärztin Dr. Kawaoka überwacht die Einnahme der Antibiotika.

Dass Antonio Estrelas Therapie erfolgreich verläuft und ihm die Rückkehr in ein geordnetes Leben ermöglicht, liegt maßgeblich in der Verantwortung von Krankenschwestern wie Gislene Ruba, die im Gesundheitsposten JUTA 1 strikt über die regelmäßige Einnahme der Medikamente wacht. Sie weiß, dass unter den Wohnungslosen, die jeden Tag um ihr Überleben kämpfen, die Quote der Therapie-Abbrecher besonders hoch ist. Die verhängnisvolle Konsequenz: die Tuberkulose-Erreger bilden Resistenzen gegen die Antibiotika aus, die Heilungschancen schwinden rapide.

"Deshalb müssen unsere Patienten hier erscheinen. Jeden Morgen und das sechs Monate lang“, so Schwester Gislene. Und wenn sie ihre Termine versäumen? "Dann suchen unsere Gesundheitsagenten die Kranken auf. Mit einem Therapie-Abbruch gefährden sie ihr eigenes Leben und die Menschen in ihrer Umgebung.“

 

Sichere Diagnose im Labor – mit der neuen Methode werden viel mehr Menschen richtig untersucht

 

Lag die Todesrate unter den TB-Kranken in São Paulo jahrelang bei über 700 Menschen pro Jahr, so konnte der tödliche Verlauf der Erkrankung durch Vorbeugung und Früherkennung auf unter die Hälfte gesenkt werden. Zurzeit werden in São Paulo, soweit statistisch überhaupt zu erfassen, 72 Prozent aller Tuberkulosepatienten geheilt. "Hier setzen wir uns ein Ziel für die kommenden Jahre“, erklärt die DAHW-Projektpartnerin Dr. Naomi Kawaoka. "Wenn wir durch Aufklärung und Vorbeugung, durch schnelle Diagnostik und konsequente Behandlungskontrolle mit Hilfe unserer Gesundheitsagenten die Heilungsrate auf 85 Prozent steigern, sind wir im Kampf gegen die Tuberkulose einen wichtigen Schritt weiter.“

von Rolf Bauerdick (Text und Bild)


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